Auszüge aus dem Tagebuch

 
Tagchagpuri  

Zurück in die Zivilisation

16. Oktober: Auf unserem Weg nach Westen sehen wir immer häufiger Lehmgebäude oder Steinkrals der Sommerlager der Nomaden. Ab Mitte Oktober scheint hier niemand mehr zu bleiben. Zu jeder der Ansiedlungen führt eine Fahrspur und wir müssen ständig darauf achten, nicht die Hauptpiste zu verlieren. Das ist jedoch nicht so einfach, wie man sich das denkt. Die Piste führt öfters mal über den Fluss, der selbst zwar nicht tief und breit ist, dafür aber ein breites Schotterbett besitzt. In diesem Schotter fährt fast jeder, wie er meint, den Fluss am besten durchqueren zu können, und meist gibt es zusätzlich noch alternative Fahrspuren auf den Uferterrassen, die sich wenige Kilometer weiter wieder mit der Hauptpiste vereinen. Es entsteht somit ein Netz an unzähligen Fahrspuren in alle möglichen Richtungen. Wenn dann eine der Fahrspuren die Hauptpiste ist und eine andere zu einem der Lehmhäuser führt, so ist das vor allem in der Nähe des Flusses nicht erkennbar. So kommt es, dass wir öfters mal entweder querfeldein versuchen die Hauptpiste wieder zu finden, oder eine gewisse Strecke zur letzten Weggabelung zurück fahren.

Am Seeufer lege ich mich für eine Stunde auf das getrocknete Seegras und schlafe. Es ist der See, den wir weit im Westen vom Gipfel des Tagchagpuri aus schon gesehen hatten. Mein Kreislauf ist schwach, die Fieberschübe und der Schüttelfrost kommen trotz der wärmenden Sonne und mehrerer Schichten Bekleidung zurück. Die Sonne ist immer noch derartig intensiv, dass das Sonnenbad nur mit dickem Gesichtsschutz und Sonnencreme machbar ist. Das Wasser des Sees ist leicht salzig, aber wir können es trotzdem für Erfrischungs- und Regenerationsgetränke verwenden. Trotz unseres Zaubertranks bin ich nicht mehr kräftig genug, den Rest des Tages durchzuhalten. Irgendwann in den nächsten Stunden werde ich sicherlich zusammenbrechen. Mit eisernem Willen kann ich diesen Zeitpunkt versuchen hinauszuschieben. Aber schnell ist auch Waltraud klar, dass wir nur noch ein paar Kilometer weiter können und so beschliessen wir, am westlichen Ende des Sees zu zelten. Ein klares Ziel ist sehr hilfreich, wenn man nicht weiss, wie lange man sich noch aufrecht halten kann.

17. Oktober: Die Nacht wird ruhig. Ich kann lange tief schlafen und dadurch gut regenerieren. Der Appetit auf süsses Müsli ist zwar immer noch nicht zurück, aber zumindest kann ich viel süssen Kräutertee trinken. Der Bauch rumort ebenfalls noch. Die selbstzusammengestellte Kräuterteemischung, gedacht für Magen- und Darmbeschwerden entfaltet ihre Wirkstoffe. Wie schnell diese jedoch wirken, bleibt abzuwarten. Noch während des Zeltabbaus muss ich zweimal rennen, diesmal plagt mich starker Durchfall. Aber wenigstens ist das Fieber vorbei und ich fühle mich kräftig genug für einen Radeltag.

Schon am Vormittag sehen wir jedoch dunkle Schneewolken im Westen und Süden aufziehen. Die Berggipfel dahinter sind schon nicht mehr zu erkennen, und der Wind frischt zunehmend auf.
Mitten im Schneesturm treffen wir auf die breite, von Baumaschinen geschobene Piste. Diese Piste hat einen gravierenden Nachteil: Sie besitzt eine weiche und wellige Oberfläche, kurz, sie ist schlecht zu beradeln. Der Vorteil sind die Kilometersteine, die hier stehen. Jetzt können wir im schlimmsten Schneesturm noch erfassen, wo wir sind und wie weit es noch bis zur Siedlung Zapuk ist. Wir treffen auf diese Piste bei Kilometer 110, die Siedlung vermuten wir bei Kilometer 90. Das sollte bis zum Abend trotz des Sturms zu schaffen sein. Aber der Sturm nagelt uns zunehmend auf der Piste fest. Wir haben keinen Tropfen mehr in unseren Trinkflaschen, die Kraftreserven sind ebenfalls zu Ende und in der grasbedeckten Ebene ist weit und breit kein Wasserloch, Brunnen oder gar eine Ansiedlung zu erkennen. Ausserdem ist die Siedlung nicht bei Kilometer 90. Wir kämpfen weiter gegen den Sturm und die Schneeböen. Als gegen 17 Uhr immer noch kein Gebäude in Sicht ist, wobei wir ja nur etwa 100 Meter weit sehen können, entschliessen wir uns zu einem Notcamp, immerhin sind wir schon beim Kilometerstein 83. Die Wasserversorgung für den Abend müssen wir durch langwieriges Schneeschmelzen sichern.

Beim Ausziehen der Socken entdecke ich, dass mein rechter Fuss an allen Zehen und einem weiten Bereich des Fussballens schlecht durchblutet und von weisslicher Farbe ist. Ein Gefühl auf Berührung und Temperatur existiert an den betroffenen Stellen auch nicht mehr. Das sind die ersten Symptome einer grossflächigen Erfrierung. Am linken Fuss sind die beiden grössten Fusszehen betroffen. Ich schmiere die unterkühlten Stellen mit einer Wärmesalbe ein und ziehe für die Nacht ein paar Socken zusätzlich an.

18. Oktober: Die Piste führt direkt durch die tibetische Siedlung. Die Häuser sind teilweise weiss gekalkt und mit bunten Fenster- und Dachbaldachinen geschmückt, die Holzrahmen der Fenster sind bunt angemalt und nur wenige der Menschen, auf die wir treffen haben chinesische Billigbekleidung an. Alles ist so typisch tibetisch, wie wir es von unserer ersten Reise durch dieses Land besonders in Osttibet erleben konnten. Am Ortsrand befinden sich Reparaturwerkstätten und Restaurants, kleine Läden für Werkzeuge, Haushaltswaren und Motorradersatzteile. Ein Schmied und ein Möbelschreiner halten in ihrem geschäftigen Handwerk inne und blicken uns nach, als wir der Dorfstrasse um die einzelnen Gebäudekomplexe folgen. Sogar ein Strassenfriseur stoppt das Werkeln mit Schere und Kamm und beide, er und sein Kunde, betrachten verwundert das, was da durch ihr Dorf fährt.

Ein paar Sekunden nachdem wir mit den Fahrrädern am Rand des Dorfplatzes stoppen, drehen sich die ersten Erwachsenen in unsere Richtung, und bald sind wir sind umringt von etwa 50 Menschen, die ihre Neugierde kaum bremsen können. Alle Packtaschen werden angefasst, um das Material zu erkennen. Die Reifen werden mit den Fingern gedrückt, um deren Qualität zu prüfen. Einige Erwachsene deuten auf die Tachos und das GPS-Gerät und reden zu ihren nebenstehenden Kollegen für uns unverständliche Erklärungen. Wir können uns mit unseren paar Wörtern Tibetisch leider nicht verständigen, aber viele Sachen können wir auch nonverbal erläutern. Beispielsweise wie die Federgabel oder die Schaltung funktioniert. Allmählich beginnen die ersten Gesichter zu lachen und die gewohnte tibetische Fröhlichkeit auszustrahlen. Hier sind wir endgültig wieder zurück aus der Einsamkeit und fühlen uns wohl im Kreis dieser fröhlichen Menschen. Dennoch zieht es uns erst einmal wieder hinaus in die Natur, wir haben noch drei Tag bis zum Ende der Expedition und wollen noch zu einem besonders schönen Ort fahren.

21. Oktober: Jede Nacht, wenn man vor das Zelt tritt, wird man unweigerlich vom Sternenhimmel in den Bann gezogen. Der Sternenhimmel in über 5000 Meter Höhe ist mit nichts vergleichbar, was ich bisher von anderen Regionen der Erde sehen konnte, selbst nicht in den klaren Wüstennächten der Sahara oder der australischen Wüste. Die Klarheit der funkelnden Sterne wird durch mehrere Faktoren begünstigt: Klare Luft, wenig Wärmeflimmern am Horizont, keine Lichtverschmutzung durch andere Lichtquellen, Windstille in der Nacht und eine geringere Lichtstreuung des Sternenlichts in der dünneren Atmosphäre. Das Sternenlicht ist so hell, dass die Konturen in der Landschaft immer noch sehr gut zu erkennen sind. Bei entsprechend geringer Bewölkung gibt es eigentlich keine dunklen Nächte. Wenn im Laufe der Nacht Sirius, der hellste Stern am Firmament erscheint, reicht das Sternenlicht fast schon zum lesen.
Selbst Sterne direkt auf der Horizontlinie sind deutlich als Punkte erkennbar, ein Phänomen, das es in Europa nicht gibt. Durch die topographische Höhe wirken die Sterne auch grösser und näher. Diese gefühlte Nähe wird auch noch dadurch verstärkt, dass erheblich mehr Sterne zu sehen sind, als zu Hause. Eigentlich ist keine grosse Himmelsregion so richtig schwarz, überall sind Sterne und Sternenhäufen zu erkennen. Weil zu viele Sterne zu sehen sind, fällt es uns immer wieder schwer, die uns bekannten Sternenbilder zu identifizieren. So können wir lediglich den grossen Wagen, Orion, Skorpion oder Kassiopeia deutlich erkennen, bei vielen anderen Sternbildern haben wir wegen der Fülle an Sternen so unsere Schwierigkeiten. Leider sind die Nächte recht kalt und animieren nicht unbedingt zu langen Sternenbeobachtungen. Dennoch ist das intensive Erleben des klaren Sternenhimmels etwas, an das wir uns lange noch erinnern werden.

Das letzte gemütliche Frühstück der Expedition geniessen wir mit Blick auf das grossartige Seepanorama. Die Sonne scheint inzwischen schon seit zwei Stunden auf das Zelt, die nachts an der Zeltplane entstandenen Schneekristalle schmelzen schnell, das Zelt trocknet zunehmend.

Die letzten Kilometer bis zur Strasse 219 legen wir in wenigen Minuten zurück, dann fahren wir wieder auf der Hauptstrasse, die von Yecheng nach Tibet führt. Entsprechend schlecht ist die Fahrbahnoberfläche. Das Wellblechprofil reicht von einer Seite auf die andere. Es gibt kaum eine Fahrlinie, auf der wir nicht durchgerüttelt werden. Schon bald überholt uns auch der erste LKW und staubt uns wieder kräftig ein. Das hatten wir ganz bestimmt die letzten Wochen nicht vermisst!

Wir müssen bis zur Siedlung Domar einen kleinen Pass hinter uns bringen, von 4300 Meter geht es hoch auf 4650 Meter und wieder hinunter auf 4400 Meter. Nach einigen Kilometern ist die Passhöhe endlich erreicht, was mit warmem Tee und Trockenobst gefeiert wird. Es sind nur noch 15 Kilometer bis nach Domar, davon acht Kilometer eine rasante Abfahrt. Es macht ordentlich Spass, die Strecke mit 20 bis 30 Kilometer pro Stunde hinabzurasen, bis das Adrenalin einen berauscht, auch wenn wir der Ankunft in der Siedlung Domar eigentlich eher mit Wehmut entgegensehen. Von Domar aus werden wir per Anhalter auf einem Lkw zurück nach Norden fahren, dem Ende unserer Reise entgegen.

Tagchagpuri